Sachverständige, Gutachten und ein möglicher weiterer Prozesstag
Heute ist der Saal mal wieder bisschen voller, es sind 20-30 solidarische Prozessbegleiter*innen anwesend.
Zu Beginn geht es um den Antrag der Verteidigung vom 27. Prozesstag, bezüglich Gründungszeitpunkt der unterstellten kriminellen Vereinigung und der Frage, ob alle Personen, die in den Videos zu sehen sind, als Mitglieder gewertet werden.
Der Senat erläutert sie gehen aktuell davon aus, dass es sich nicht um eine Fortsetzung der ca. 2018 in Leipzig um gegründeten kriminellen Vereinigung (Antifa Ost) handelt, sondern in Budapest eine neue Vereinigung gegründet wurde.
Darauf folgt ein „rechtlicher Hinweis“ nach §265 StPO, dass nun auch eine Verurteilung nach §129b „Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland“ in Betracht gezogen wird. Dazu kommt auch die mögliche Verurteilung für 6 weitere Fälle der (gefährlichen) Körperverletzung, da 6 Passant*innen Pfefferspray abbekommen haben könnten.
Außerdem ist ein Aktenordner neu aufgetaucht, die Übersetzung wird bis Ende der Woche dauern, deswegen klärt sich erst beim 30. Prozesstag am 04. September was drin steht und ob ein weiterer Prozesstag für die Inhalte benötigt wird.
Nachdem das alles geklärt wurde, kam die Sachverständige Marsovszky, sie ist freie Kulturwissenschaftlerin an der Uni Köln. Sie erläutert viel über die ungarische Rechte und ihre Zusammenarbeit mit der ungarischen Regierung: welche Gewalt- und Straftäter am Tag der Ehre Teilnehmen, dass sie Kriegslieder singen und auf das nationale Erwachen schwören, dass Reden von Hitler verlesen werden, dass nicht eingeschritten wird wenn Banner von verbotenen Gruppen gezeigt werden und wie rechtsextreme Gruppen staatlich finanziert werden.
Auf die Frage, ob sie auch zum Gegenprotest geforscht hat, distanziert sie sich von ungarischen Antifas, sie will „nicht unbedingt was mit ihnen zu tun haben“: Sie hätten nicht die richtigen Lehren aus dem Realsozialismus gezogen und seien zu antikapitalistisch und zu antizionistisch.
Leider war Marsovszky seit 2013 nicht mehr bei den zentralen Veranstaltungen des Tags der Ehre anwesend, weil sie wegen ihrer wissenschaftlichen Arbeit viele Drohungen von Neonazis erhält und man sich seit 2012 bei den Veranstalten ausweisen muss, um sich dort aufhalten zu können. Das gefällt dem Senat gar nicht, sie sind vor allem an den konkreten Geschehnissen am Tag der Ehre 2022 und 2023 interessiert und weniger an den ideologischen Hintergründen. Auch die Tatsache, dass Marsovszky kritische Theorie als Methode verwendet stößt nicht auf Begeisterung.
Bei der anschließenden Befragung zieht Richter Reichenberger das antifaschistische Infoblatt Nr. 142 als Quelle heran.
Nach der Mittagspause stellt der Sachverständige Prof. Dr. Eisenmenger (Universitätsprofessor im Ruhestand) sein Gutachten vor: sein Auftrag war zu beurteilen, ob die sichergestellten Gegenstände geeignet sind um die dokumentierten Verletzungen hervorzurufen, und eine Einschätzung über die Gefahren und mögliche bleibende Schäden der Verletzten.
Er zählt alle dokumentierten Verletzungen der Geschädigten und wie diese jeweils zustande gekommen sein könnten auf und kommt zu dem Schluss, dass bei den meisten ein Schlagstock als Ursache möglich ist.
Für die Beurteilung der Gefahren zieht er einen Versuch heran, den er mal für einen anderen Prozess durchgeführt hat. Dabei wurde mit vergleichbaren Schlagstöcken auf einen mit Schweinehaut überzogenen Metallschädel gehauen um die Toleranzgrenzen zu ermitteln. Die technischen Details und die Berechnungen erspare ich euch hier. Es werden alle Szenarien aufgezählt, durch was man bei einem Schlagstock oder Pfefferspray Einsatz bleibende Schäden erlangen oder sterben könnte, das Fazit ist aber immer, dass sich diese Gefahren nicht verwirklicht haben.
Gegen ende sagt der Sachverständige „Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass sich diese potenzielle Lebensgefahr tatsächlich real verwirklicht“, „wenn ich meine gesamte Erfahrung in der Rechtsmedizin einfließen lasse, dann habe ich etwa 20.000 Sektionen durchgeführt. Und ich erinnere mich an keinen Todesfall durch Einwirkung eines Schlagstockes. Durch Tritte gegen die Rippen allein kann ich mich im Moment auch nicht erinnern, dass das als isolierte Ursache eines Todesfalles, zu einem Todesfall geführt hätte“.
Zu guter Letzt stellt auch Dr. Limmer ihr Gutachten vor, die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit Schwerpunkt forensische Psychiatrie beurteilt, ob eine Anwendung von §20 (Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen) oder §21 (Verminderte Schuldfähigkeit) in Frage kommt. Da Hanna eine Exploration angelehnt hatte, kann sich Dr. Limmer nur auf die Akten und Hannas Verhalten während des Prozesses beziehen. Hannas Lebenslauf wird nochmal skizziert, mit dem Fazit, dass Hanna die Stufen der psychosozialen Entwicklung erfolgreich gemeistert hat (herzlichen Glückwunsch!).
Richter Stoll fragt nochmal nach, ob die mögliche Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, die möglichen dahinter steckenden Überzeugungen, sowie die bewusste Inkaufnahme des Risikos bestraft zu werden, nicht als psychische Auffälligkeit zählt, aber nein, tut es nicht.
Am Ende wird noch ein möglicher weiterer Prozesstermin vereinbart, falls Urkunden aus dem neu aufgetauchten Aktenordner besprochen werden müssen. Selbstlos stellt sich Richter Stoll die Frage „wie lange brauche ich und wann werde ich hungrig?“ und der Termin wird auf den 26.09. um 13 Uhr festgesetzt. Wie oben erklärt wird am 04. September entschieden ob dieser Termin stattfindet oder nicht.